Weimarer Reden über Deutschland - Rolf Hochhuth:

"Zu große Nähe führet zum Streit"

Von Rolf Hochhuth

 

Der 4. März 2001 brachte zwei Ereignisse, die nunmehr zwar nicht als Barrikaden den Weg nach Europa versperren, aber doch - als unübersehbar-eindringliches Memento an dieser Straße stehen. Die Wahlentscheidung von 77 Prozent des Schweizer Volkes, erst einmal abzuwarten, was werden wird aus der EU, ehe die Eidgenossenschaft über ihren eventuellen Beitritt verhandeln darf, denn ob und wann verhandelt werden darf, das entscheidet, sehr zu bewundern, in der Schweiz nicht die Regierung, sondern das Volk! Und zweitens eine ganze, wie eine Drohung zu lesende Seite in "Welt am Sonntag", auf der immerhin nicht irgendwer, sondern der Bundesbankpräsident die Skepsis von mehr als sechzig Prozent der Deutschen signalisiert, Tendenz "rasant steigend", wie das da heißt, dass sie nämlich der Liquidierung ihrer D-Mark zugunsten des Euro ab 1. Januar 2002 vehement ablehnend gegenüberstehen - ohne freilich gefragt zu werden. Denn wir haben keine direkte Demokratie, wie die Schweizer sie sich erkämpft haben gegenüber ihrem Bundesrat - natürlich erkämpfen muss eine Nation sich dieses Grundrecht, ohne das jede Demokratie nur eine halbe ist. Keiner ist das Referendum geschenkt worden. Sondern uns wird die Abschaffung der seit über fünfzig Jahren so stabilen Deutschen Mark, einfach diktiert. Referendum ist denn aber auch genau, was der deutsche Bundesbankpräsident in diesem speziellen Fall bei Einführung des Euro vermisst! (...) Warum weigern sich strikt nicht nur die Briten, die nie einen Krieg verloren haben, sondern auch die wirtschaftlich Klügsten, die Schweizer, ihre eigene Landeswährung zu verabschieden zugunsten des Euro? Man müsste als Deutscher ein Trottel sein, wäre man durch diese Entscheidung nicht von Grund auf verunsichert - ja, mehr: Überzeugt, dass nicht gut gehen wird, was da ab 1. Januar 2002 über uns verhängt ist, ohne dass wir Bürger ein Wörtchen mitzureden haben gegen dieses wirtschaftliche Ermächtigungsgesetz, das die deutschen Parlamentarier – sogar die heutigen, also die einer neuen Regierung – völlig bedenkenlos den Brüsselern schenken!

 

Sogar der Bundesbankpräsident, der auf dieser ganzen großen "Welt am Sonntag"-Seite nicht mit einem Wort sagt, wozu die Abschaffung der DM gut sein soll, warum die Wirtschaft das überhaupt anordnet, denn sie regiert ja unsere Regierung-, macht keinen Hehl auch aus seinen eigenen persönlichen Befürchtungen, wenn er da sagt: "Die starke Mark wird mit dem Wiederaufstieg Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg identifiziert... Die Deutschen haben im vergangenen Jahrhundert bereits zweimal ihr Geld verloren." (...) Hätten die Amerikaner 1948, als sie ihre Marshall-Plan-Millarden zum Aufbau der deutschen Wirtschaft gaben, ebenso gehandelt wie bei der Wende die Regierung Kohl - das haben sie aber nicht, weil die USA zur Truman-Zeit uns Deutschen, auch den Japanern gegenüber die ethisch höchststehenden Okkupanten der gesamten Weltgeschichte waren -, sie hätten nicht uns geschlagenen Kriegsverbrechern ihr Dollars geschenkt, sondern ihren Geschäftsleuten gesagt: Fliegt mit dem Geld nach Frankfurt und kauft euch Krupp und Siemens und die Hotel- und Warenhauskonzerne und süddeutschen Güter. Die liegen zwar alle angebombt im Dreck, doch eben deshalb könnt ihr die jetzt kriegen für´n Appel und ein Ei!

 

So verhielt sich Kohl gegenüber den Ossis, die vierzig Jahre lang allein auch für uns Wessis Hitlers Russlandfeldzug abgebüßt hatten und die wir dann restlos arm kauften, um ihnen dadurch ihre zweite, nun endgültige Enteignung aufzuzwingen. Der das beschlossen hat - hat auch beschlossen, dass am 1.1.2002 die D-Mark verschwindet: Warum einer solchen Regierung noch Vertrauen entgegenbringen, wenn wir doch sehen, Engländer und Skandinavier tun das nicht, sondern beharren auf der Beibehaltung ihrer bisherigen Währung?

 

Wir hören sicher nicht gern in Deutschland, wenn ich da sagte, die Schweizer, die am Sonntag mit dem Rekordergebnis von 77 Prozent ihren Beitritt zu Europa erst einmal abgelehnt haben, seien die wirtschaftlich Klügsten! (...) Die Eidgenossenschaft holt 26 Prozent ihrer Arbeitnehmer aus dem Ausland und lässt die so gut verdienen, dass sie daheim davon nur träumen könnten. Und sie hat fast keine Landsleute, die arbeitslos sind... Sie hat keine Bodenschätze, keine Schwer-Industrie, nicht einmal eine Autofabrik. Warum bei so viel Tüchtigkeit so viel Skepsis gegen Europa?

 

Ich fände unredlich, das alles, so pessimistisch es ist, nicht zuerst zu erwähnen, gerade deshalb, weil ich - nun seit 38 Jahren in Basel lebend, doch noch immer vom Pass her und nicht nur vom Pass her ein Deutscher bin - also aus der Stadt heute nach Weimar komme, in der schon 1874 Nietzsche den Begriff "Zum guten Europa" geprägt hat, was sehr oft zitiert wird - während man vergisst hinzuzusetzen, dass in Basel im gleichen Jahr 1874 der profundeste aller Historiker, Jacob Burckhardt, vor dem Verein junger Kaufleute einen Vortrag über "Die kommende Weltherrschaft der englischen Sprache" hielt, darin die atemnehmende Prophezeiung: "Die Rettung deutsch geschriebener Bücher kann nur ihre Übersetzung ins Englische sein"!

 

Die Schweizer Unlust

 

Mehr als von den Deutschen können wir also ganz zweifellos über Europa von jenen Menschen erfahren, die bereits seit über einem halben Jahrtausend - als einzige - in einem demokratischen Staat leben, der Völkerschaften in sich vereint, die vier verschiedene Sprachen sprechen: Französisch, Italienisch, Rätoromanisch und Deutsch. (...) Ein aufregender Widerspruch, dass es ausgerechnet die einzige Viervölkerdemokratie in Europa ist, von der der stärkste Widerstand gegen die europäische Einigung erwartet werden muss. (...) Woher dennoch die so ausgeprägte Unlust der Schweizer, den Europäischen Staatenbund mitzuschaffen? "Wir können nicht Europa werden, weil wir längst Europa sind", sagen dortzulande viele im Sinne eines Goethe-Worts: "Nur das Unzulängliche ist produktiv." Sie sind eben nicht unzulänglich, sie haben längst, was wir Nachbarn erst haben wollen. Und sie weisen zum Beispiel darauf hin, dass bereits jetzt 15 Prozent der arbeitenden Schweizer in solchen Betrieben ihr Geld machen, die jenseits der Grenzen angesiedelt sind. Eine kluge Musikstudentin aus Solothum, die auch in Basel, vor allem aber in Mailand Gesang studiert hat, sagte ganz einfach, sie habe deshalb am 6. Dezember 1992 gegen den Beitritt in den EWR gestimmt, weil "alles zu Große schon überheblich ist". Richtig: Größe und Böse sind Reimworte! Und da sie und ihre Landsleute, dreisprachig aufgewachsen, so selbstverständlich nach Florenz oder Paris fahren wie unsereins nach Frankfurt oder München reist, sind sie kaum geneigt, in Europa überhaupt ein Programm zu sehen, da sie doch längst Europäer sind! Aber auch diese junge Sängerin - da noch kein namhafter Star - muss bitter büßen, dass die Schweiz noch nicht mitmacht, so europäisch sie doch längst schon ist, viel mehr als jeder Staat, der bereits ja gesagt hat zu Brüssel als zu seiner Vormundschaftsbehörde -, auch diese Musikerin muss mitbezahlen, dass Bern wie sein Schweizer Volk nicht mitmachen will: Kriegt sie in EU-Ländern ein Engagement, in Turin oder Amsterdam oder Frankfurt, so nur so lange und unter dem entwürdigenden Vorbehalt, dass sie diesen Job sofort wieder verliert, wenn sie sich aus den EU-Ländern ein Bewerber findet, der ebenso wie die junge Schweizerin ihren Job ausfüllen könnte... Völlig amoralisch von der EU-Behörde, bedenkt man, wie viele Arbeitslose mehr jetzt zur EU zählende Staat hätte, würden die Schweizer nicht ein Viertel aller ihrer Arbeitnehmer aus unseren Ländern importieren! (...) Aber ein Paradoxon auch hier, eines, das weit mehr ist, nämlich schon ein Politikum: Die Schweizer reden allesamt Dialekt - nicht nur wie bei uns das so genannte einfache Volk, sondern je höher hinauf, gesellschaftlich wie intellektuell, desto ausgeprägter die Abneigung, hochdeutsch zu sprechen. Doch diese Sucht, sich auch in der Muttersprache keinesfalls den Nachbarn anzupassen, ja sich an sie aufzugeben, finde ich keineswegs nur komisch und provinziell. Denn was wird wohl in hundert Jahren aus unseren europäischen Staaten werden, wenn es schon jetzt dem Regierungschef jenes Volkes, dessen Sprache (Österreicher und Deutschschweizer mitgerechnet) einhundert Millionen Europäer als Muttersprache haben, nicht glücken will. Deutsch als zweite Amtssprache der EG durchzusetzen? Überhaupt Deutsch neben Englisch in allen internationalen Gremien durchzusetzen?

 

Die Sprache ist die Führungsmacht - immer. Der Gründer des Wissenschaftskollegs zu Berlin, Professor Peter Wapnewski, erzählte mir, es habe, als er diese Stiftung 1970 ins Leben rief, zahlreiche Berliner Behördenvertreter gegeben, die der Meinung waren, die Institutssprache müsse Englisch sein. Wapnewski hat Mühe gehabt, daran festzuhalten, dass es auch für Wissenschaftler keine Schande sei, in Berlin deutsch zu sprechen. Mir fiel dazu die verächtliche Bemerkung Churchills ein: Entweder man hat die Deutschen an der Gurgel oder zu Füßen! (...) Wir lechzen nach Einheit, nach Europa, weil wir zu wenig fragen nach dem Preis der Einheit! Und da ist es mir unheimlich, dass ausgerechnet die wirtschaftlich Klügsten, eben die Schweizer, die Zurückhaltendsten, ja die Ablehnenden neben den Briten sind.

 

Babel als Politikum

 

Und um die Sprache - wie könnte das bei meinem Job anders sein, Vertreter wirtschaftlicher Berufe haben wenigstens diese Sorge nicht, sie haben andere -, um unsere Sprache ist mir am meisten angst. Dass die jetzt Jahr für Jahr schon wachsende Aushöhlung, zuletzt demnach das Absterben der deutschen Sprache mich keineswegs nur in meiner Eigenschaft als Schriftsteller mit größerem Misstrauen gegen den Vorsatz, Europa zu vereinigen, erfüllt als alle - als ausnahmslos alle - anderen Gefahren, die von dort drohen, das müssen Sie mir deshalb glauben, weil ja in der Bibel die zuerst genannte politische Maßnahme Gottes die Herstellung der Sprachen-Vielfalt ist!

 

Sicher hat der Schöpfer da nicht nur an die Autoren gedacht - sondern an alle Menschen. Wir dürfen vermuten, Gott hat am Uranfang - bereits im 1. Buch Moses, im 11. Kapitel schon - deshalb nicht verhindert, dass der Babylonische Bau mit dem Menschenziel, alle in ihm zu vereinigen, jemals fertig werde, weil er speziell gegen allzu gigantische Gebäude eine Abneigung gehegt habe. Sondern gegen die einheitliche Sprache aller Menschen...

 

Nein, das ist keine Vermutung, sondern wird expressiv verbis viermal im elften Kapitel ausgesprochen. Ich zitiere, so der Anfang des Kapitels, programmatisch: "Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache." Die Menschen wollen das immer so, sie sagen: "Wohlan, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen... denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder." Das wollen sie nicht - doch das will Gott: der "fuhr hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm". Seine Missbilligung: "... es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und haben das angefangen zu tun; sie werden nicht ablassen von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun."

 

Doch Gott verhindert das, er sagt sich: "Wohlauf, lasset uns hernieder fahren und ihre Sprache daselbst verwirren, dass keiner des anderen Sprache verstehe!" Und - so verhindert Gott, dass der Einheitswahn - heute würden wir sagen: Globalisierung - realisiert werden kann. (...) Überlieferung und Mangel an Nachdenklichkeit haben uns eingefleischt, in dieser hochpolitischen Geschichte des Turmbaus und der Einheitssprache ein Strafverfahren Gottes zu sehen - wie aber, wenn er das politisch Klügste, Humanste damit bewirken wollte, weil er uns kannte, uns Menschen und also wusste: "Allzu große Nähe führet zum Streit" - wie das dann Shakespeare in "Troilus und Cressida" ausgesprochen hat? (...) Mir wurde ja schon um 1970 deutlich - doch wem nicht? - dass es nicht bei de Gaulles noch so maßvollem Konzept: "Europa der Vaterländer" bleiben, sondern dass man fortfahren werde, auf dem begonnenen Weg bis mit der Vereinigung ein neuer und sicher für Außereuropäer erschreckender Gigant in die Welt gesetzt worden ist, der vielleicht noch nicht oder noch lange nicht militärisch seine Nachbarn bedrohe, aber doch - und das ja heute schon - als Wirtschaftsgoliath!

 

Das, unübersehbar, ist natürlich die Ermahnung, die im Buch Moses angeordnete Vielsprachigkeit als das Mittel zu respektieren, ja vermutlich sogar als das einzige Mittel gegen die speziell uns Deutschen eingefleischte Neigung zur Anpasserei. Und ist der eindringlichste aller Hinweise, dass wir jetzt dem gleichen Fimmel längst schon erlegen sind, der uns Deutsche in früheren Jahrhunderten, wollten wir als gebildete Leute gelten, Latein hat schreiben, später dann Französisch und folglich und folgsam heute Englisch sprechen lassen. Und das ist weiß Gott gefährlicher als nur ein Tick, ist nämlich ein Politikum ersten Ranges, weil ich dem, dessen Sprache ich mich eilfertig befleißige, untertan auch geistig und zuletzt - oder nicht erst zuletzt - sogar noch militärisch werde!

 

Das hat niemand in unserer Epoche, deren Beginn ich mit 1989, also mit dem Wegschmelzen des Eisbergs Ostblock datiere, so drastisch zum Ausdruck gebracht wie der ungewöhnlich dumme deutsche Außenminister Kinkel, der Mitte der neunziger Jahre amtiert hat. Wenn es ihn als solchen: als Außenminister Gott sei Dank nicht mehr gibt - so gibt es, fürchte ich, doch noch einige der sehr entscheidenden Weichenstellungen, die auf Kinkels Hand zurück gehen: Ein Nato-Höriger, dem offenbar niemals der Europäer und auch der Deutsche nicht, in den Arm gefallen sind, ja ihn auch nur mit Bedenken ausgestattet und gewisse Hemmungen auferlegt hätten, als er buchstäblich propagierte, die Nato müsse die Schwäche Russlands ausnutzen - und ganz bestimmt ist die Schwäche nur eine augenblickliche - und sogar noch das Baltikum und Bulgarien dem Nordatlantik-Bündnis einverleiben. Damit nämlich Russland ganz ebenso durch die Nato bedroht werde, wie einst durch den verrückt gewordenen Herrn Chruschtschow die USA, als der auf Cuba Raketen vor die Haustüre der Amerikaner stellen wollte, was um ein Haar den Dritten Weltkrieg ausgelöst hätte. (...) Wer Angst um unsere Arbeitsplätze hat, der müsste sich ja beinahe freuen - wenn er so verrückt wie Herr Kinkel wäre! -, wenn nunmehr der Westen diesen Anrainern der Russen den Ankauf moderner Waffen aufzwingen kann. Denn wenn diese Länder vollwertige Nato-Partner werden wollen - wie könnten sie sich davor drücken, beträchtliche Prozente ihrer Staatsausgaben für neue Waffen auch aus Westeuropa auszugeben? Nur sollten wir fragen: Sind Waffenexporte es wert, die Russen den Chinesen zuzutreiben?

Bemerkenswert, ja aufscheuchend, dass ausgerechnet ein Volk, das bis vor zehn Jahren eine vier Jahrzehnte lang so sich nennende SED - also "Einheitspartei" - ebenso als Bedrückung empfunden hat wie zuvor zwölf Jahre lang die Einheitspartei NSDAP: Dass trotzdem dieses Volk die Propagierung von Einheit - jetzt also im Hinblick auf Europa - völlig distanzlos gutheißt. Dass es Einheit überhaupt nicht mehr in ihrem angeblichen Wert in Frage stellt! 

Nato hat Zweck erfüllt

 

Dass Einheit, Vereinheitlichung - auch negative Aspekte haben könnte, dieser Gedanke, fast nicht zu glauben, kommt heute unter uns Deutschen allein wegen der Abschaffung der D-Marki zugunsten des Euro noch auf!

 

Die Europa-Gründung hat überhaupt kein Programm. Doch gibt es keine Gründung ohne Programm. (...) Ob man nun eines Tages sich damit begnügt - ich hoffe das! - von den Vereinigten Staaten Europas zu sprechen oder ob die Vereinigung bis zur Auflösung unserer Nationen getrieben werden wird, doch ich vermute, das wird gar nicht möglich sein - eines ist sicher: Keine Gründung ohne Programm! Wo aber ist das Kulturelle? Nicht nur gibt es keins, wenn man absieht von der Marginalie, dass die Kulturkommissarin in Luxemburg fordert, schon Erstklässlern mit der vaterländischen zwei Nachbarsprachen beizubringen. (...) Mein Ältester, Jurist, hat mich zuerst aufgeklärt, wie "dank" der zentralistischen EU die Selbstbestimmung des Individuums ebenso wie die der einzelnen Staaten gesetzlich ausgehöhlt wird. Daher, denke ich, ist die Forderung des Tages, die wir als Deutsche auch dann, wenn es nur um uns allein ginge, nicht auch um Europa, zu erfüllen hätten, schon im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends:

 

Erstens - als das Dringendste: Die Neutralisierung Europas zwischen den zwei Machtblöcken USA und Russland-China, weil ja Moskau und Peking wieder zusammenrücken mussten durch die unerhörte Provokation, in den westlichen Anrainerstaaten Russlands Nato-Raketen seit der Wende zu postieren! - also ist Gebot der Stunde: Auflösung der Nato, die ihren historischen Zweck schon erfüllt hat wie der Warschauer Pakt. (...) Die Nato soll heute - und daher ihre Auflösung das Gebot der Stunde ist - den Amerikanern ihr SDI-Programm finanzieren. Und Europa soll sich den USA vom Atlantik bis Warschau hinhalten als Vorfeld und Blitzableiter! Doch muss dieses SDI-Programm, das erstmals den Weltraum bewaffnet, zum Dritten Weltkrieg dann führen, wenn der Westen, ob mit oder ohne Europa, es allein, das heißt: Gegen die Russen, statt mit ihnen gemeinsam - wenn schon - durchsetzt, da Russland eine Abwehr dagegen, seinen Schutz vor ihm nie finanzieren könnte...

 

Ich setzte als Motto vor mein neues Stück: "Hitlers Dr. Faust", das Hermann Oberth, Wernher von Brauns Raketen-Lehrer und das nur dank Oberths Erfindungen nunmehr mögliche SDI-Programm in den Mittelpunkt stellt, vier Zeilen aus der "Welt" vom 19.7.2000: "Putin in Peking... Dort sind die Vereinigten Staaten der große Abwesende. Gegen ihn und dessen Pläne zur Raketenabwehr (National Missile Defense) wollen sich Russen wie Chinesen zusammentun."

 

Die Amerikaner wissen, sie brauchen es nie - grotesk ihre Behauptung, Staaten der Dritten Welt könnten sie sonst mit Raketen überfallen: man hat nie davon gehört, dass Kamele Bisons angegriffen haben. Sie brauchen SDI als Milliarden-Dollar-Spritze für ihre Industrien und wir Europäer sind ihnen gut genug, den Löwenanteil zu bezahlen.(...) Im Geiste de Gaulles muss unser Europa der Vaterländer regiert werden - was möglich nur ist, wenn ihm nicht der augenblickliche Herr des Weißen Hauses die Weichen stellt, da die - zweifellos! - "dank" seines SDI-Wahns zum Dritten Weltkrieg führen!

 

Die zweite Weimarer Rede dieses Jahres hielt der Schriftsteller und Dramatiker

Rolf Hochhuth, der 1963 durch sein provokantes Drama "Der Stellvertreter"

bekannt wurde. Hochhuth lebt und arbeitet in der Nähe von Basel. 1996 stritt er

um das Theater am Schiffbauerdamm, die Bühne des Berliner Ensembles.

 

Quelle: TLZ